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Geschichte der Skoliosetherapie

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Die Geschichte der Erkennung und Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen reicht zurück bis in die Antike. Die Wirbelsäule war und ist seit über 2000 Jahren für viele Mediziner ein weitreichendes Forschungsgebiet, auf dem es im Laufe der Zeit immer wieder neue Erkenntnisse in den Gebieten der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Therapie gegeben hat.

Hippokrates von Kos (um 460-377 v. Chr.) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Schulmedizin in Europa.

Hippokrates von Kos

Zitate von Hippokrates wie "Die Wirbelsäule trägt Ursache und Wirkung in Eins" oder "Erlanget Wissen über das Rückgrat, denn von diesem gehen viele Krankheiten aus" zeugen davon, dass Hippokrates bereits vor über 2000 Jahren die Bedeutung der Wirbelsäule erkannte. Die Arbeiten von Hippokrates und Autoren in seinem Umfeld sind in einem Werk von cirka 60 Schriften, dem so genannten CORPUS HIPPOCRATUM zusammengefasst.
Er schrieb Werke über die Gelenke (de articulis), Knochenbrüche (de fracturis) und die Rachiotherapie, (Rhachis, griechisch, Rückgrat, Wirbelsäule) die Behandlung des Rückens. In seinen funktionellen anatomischen Beschreibungen erwähnt er über den Begriff  Parathremata Verschiebungen von Gelenken und Wirbeln, in denen er die Ursache viele Erkrankungen sah. Hippokrates beschrieb erstmals Behandlungen, die Grundzüge der Manualtherapie erkennen lassen. Er benutzte Traktion (Zug) und Druck, um Verrenkungen, Knochenbrüche und Verbiegungen an der Wirbelsäule zu korrigieren.

Appolonius von Kitium (1. Jahrhundert v. Christus) hat einige Werke von Hippokrates erstmals mit Illustrationen versehen, die als eindeutige Handlungsanweisungen für die Reposition von Knochenbrüchen oder Gelenkluxationen, sowie manipulativ korrigierenden Eingriffen an der Wirbelsäule unter Traktion zu verstehen sind. Er beschreibt zum Beispiel "die Einrichtung der Wirbel, die geschieht durch die Ferse des Arztes und durch die Winden".

Galen aus Pergamon (129-199 nach Christus) Galen, ein römischer Arzt griechischer Herkunft, war neben Hippokrates der Arzt der Antike, der die Entwicklung der Medizin als Wissenschaft durch seine Arbeiten entscheidend beeinflusst hat. Er hat viele Werke in den Fachrichtungen Anatomie ("de usu partium corporis humani" und "de anatomicis administrationibus"), Physiologie und Pathologie geschrieben, die sich auf Erkenntnisse aus Tiersektionen stützten. Von Bedeutung sind seine Werke über die Knochenlehre (Osteologie), die Muskellehre (Myologie), den Aufbau des Skelettsystems und der Beschreibung von Gehirn- und Rückenmarksnerven. Die gewonnenen Erkenntnisse waren für die nächsten Jahrhunderte eine wesentliche Grundlage der Ausbildung von Ärzten.

Oribasius (326-403), ein griechische Arzt aus Pergamon, verfasste eine Medizinische Sammlung, die "synagogia latrike", eine Enzyklopädie in zweiundsiebzig Bänden, die hauptsächlich auf den Werken von Galen und weiteren griechischen Ärzte beruhte. In den Illustrationen finden sich auch Anwendungsbeispiele von Extensionsbehandlungen.

Extensionsbehandlung in der Antike

Guido Guidi (1491-1547) war Professor für Chirurgie am berühmten "College de France" in Paris. Er schuf ein umfassendes illustriertes Werk über die Erkrankungen der Wirbelsäule und deren Behandlung.

Extensionsbehandlung im Mittelalter

Ambroise Paré (1510-1590) ein französischer Feldarzt, gilt als Wegbereiter der modernen Chirurgie und der Versorgung mit Prothesen und Stützorthesen. Er schuf die ersten Stützkorsetts aus Metall zur Korrektur von Wirbelsäulendeformitäten.

Ambroise Paré Stützkorsett aus Metall

Andreas Vesal, genannt Vesalius, (1515-1564), ein berühmter Chirurg und Anatom aus Padua, begründete durch sein anatomisches Werk "De humani corporis fabrica libri septem" erstmals die wissenschaftliche Anatomie in der Neuzeit. Im Gegensatz zu den Arbeiten Galens beruhten seine anatomischen Zeichnungen auf Sektionen, die er an allen zum Tode Verurteilten in Padua durchführte.

A.Vesal, „De humanis corporis”

Wilhelm Fabry, genannt Fabricius Hildanus (1560-1634), war ein großer deutscher Wundarzt, auf den die erste Darstellung einer skoliotischen Wirbelsäule in seinem Werk "Der Abriß des Rückgrads" zurückgeht.

Fabricius Hildanus Hildanus, Der Abriß des Rückgrads

Francis Glisson (1597-1677), ein englischer Anatom, beschrieb in einem umfassenden Werk erstmals ausführlich die Krankheit Rachitis, einer damals sehr verbreiteten Knochenerkrankung, die auf einem Vitamin D Mangel beruht und durch die Knochenstoffwechselstörung zu Skelettdeformitäten, besonders auch zur Skoliose, führte. Er schuf für diese Erkrankung eine Extensionsbehandlung, bei der mittels einer gepolsterten Lederschlinge, die am Kinn und Hinterkopf befestigt wurde, Zug auf die Wirbelsäule ausgeübt wurde, um die Wirbelsäulenverbiegung zu begradigen. Das Prinzip der "Glissonschlinge" findet noch heute in der modernen Extensionsbehandlung seine Anwendung.

Francis Glisson

In der Folgezeit wurden Gerätschaften für die Extensionsbehandlung und Orthesen zur Korrektur von Wirbelsäulenverkrümmungen ständig weiterentwickelt.

Um 1762 entwickelte Augustin Roux verschiedene Orthesen zur Korrektur von Wirbelsäulenverkrümmungen.

Korrekturorthese nach Roux Korrekturorthese nach Roux

1783 konstruierten Le Vacher und Sheldrake weitere Korrekturmodelle zur Begradigung der deformierten Wirbelsäule.

Korrekturorthesen nach Le Vacher und Sheldrake
Korrekturorthesen nach Le Vacher und Sheldrake

1835 schuf J. Hossard das erste Korsett mit einer mechanischen Verstellmöglichkeit, um Wirbelsäulenkrümmungen im Korsett zu korrigieren.

Korrekturorthesen nach Hossard

Die Diagnostik und Therapie der Wirbelsäulenerkrankungen war bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts vorwiegend durch die klinische Untersuchung und die therapeutische Anwendung von unterschiedlichen Korsetts und Extensionsbehandlungen geprägt.

1839 führte Jules Guerin erstmals die "myotomie rachidienne", eine Muskeldurchtrennung der paraspinalen Muskulatur zur Therapie der Skoliose durch, da er in der muskulären Dysbalance der paraspinalen Muskulatur die Ursache der Skolioseentstehung sah. Die Korrekturergebnisse waren schlecht, weshalb sich diese Methode nicht etablierte.

11. November 1895, Wilhelm Conrad Röntgen der Würzburger Professor der Physik vollbringt einen wichtigen Fortschritt in der Diagnostik, als er bei Experimenten mit Kathodenstrahlröhren eine bis dahin nicht bekannte Strahlenart entdeckte. Im Januar 1901 stellte er seine Entdeckung vor und fertigte eine Röntgenaufnahme seiner Hand an. Seither werden diese Strahlen als Röntgenstrahlen bezeichnet. Erst ab 1925 konnten dann Wirbelsäulenaufnahmen in 2 Ebenen angefertigt werden, die eine angemessene Aussage über den strukturellen Wirbelsäulenbefund ermöglichten.

L. Wullstein leistete 1902 mit seiner Veröffentlichung "Die Skoliose in ihrer Behandlung und Entstehung" durch seine klinischen und experimentellen Forschungen einen großen Beitrag zum Verständnis der Skoliose.

Wullstein, Skoliosetherapie

1911 führte Fred Albee erste Fusionsoperationen (Wirbelsäulenversteifungen) bei Patienten mit tuberkulös deformierter Wirbelsäule durch. Die Versteifung erfolgte über eine Fusion der Wirbelbögen, bei der nach Spaltung der Dornfortsätze ein Knochenspan aus dem Schienbein eingebracht wurde.

1920 stellte der Chirurg Wreden erstmals eine Operationstechnik der Skoliose vor, bei der Metallimplantate eingesetzt wurden.

1931 veröffentlichte Russel Hibbs die Resultate von über 300 Skolioseoperationen, bei denen er eine Spondylodese (Versteifung) durchgeführt hatte, die auf der Methodik von Albee aufbaute. Er benutzte die Dornfortsätze und feine Knochenspäne aus den Wirbelbögen als autologes (körpereigenes) Knochenmaterial zur Versteifung. Zusätzlich verödete er die Gelenke der Wirbelbögen im Bereich der Versteifungszone.

1933 verwendete Ghormley erstmals Späne aus dem Beckenkamm als autologes Material zur Wirbelsäulenversteifung.

1951 veröffentlichte Lange in einer orthopädisch-chirurgischen Operationslehre ein Skolioseoperationsverfahren, bei der zur Stabilisation des Korrekturergebnisses eine innere Fixation mit Küntscher-Nägeln, die an den Dornfortsätzen der Wirbel befestigt wurden, durchgeführt wurde.

Lange, Skoliose-Op,Versorgung mit Küntschernagel

1962 führte Paul R. Harrington, ein amerikanischer Orthopädischer Chirurg, ein selbst entwickeltes Instrumentarium ein, das Harrington Stab-System, durch das die operative Skoliosetherapie revolutioniert wurde. Das wesentliche Prinzip bestand in der Einbringung eines konvexen Kompressionsstabes und eines konkaven Distraktionsstabes zum Ausgleich und zur Stabilisierung der skoliotischen Verkrümmung der Wirbelsäule. Mit dieser Technik konnten viele Patienten mit idiopathischer, kongenitaler und neuromuskulärer Skoliose erfolgreich behandelt werden. Es folgten bis heute viele Modifikationen und Weiterentwicklungen dieser genialen Innovation von Harrington.

Paul R.Harrington

Pierre Stagnara, (1917-1995), ein bedeutender französischer Orthopäde hat die Weiterentwicklung der Skoliosetherapie in der Zeit von 1950-1982 entscheidend mitgeprägt. Er erkannte die Bedeutung der Entfernung des Rippenbuckels ("resection du chevalet costal") und der damit verbundenen erhöhten Flexibilität der Wirbelsäule. Er entwickelte die Technik des "Greffe anterieur", des vorderen Abstützspans zur Unterstützung der Wirbelsäulenstabilität bei der operativen Versorgung von Skoliosen, die mit einer schweren Kyphose kombiniert waren. Er verbesserte die radiologische Beurteilung der Kyphoskoliosen durch Einführung einer speziellen Schrägaufnahme, bei der die Röntgenkassette parallel zur medianen Fläche des Rippenbuckels ausgerichtet wird ("plan d´élection").

Pierre Stagnara Stagnara, plan d´élection

1975 stellte Luque eine Weiterentwicklung des Harrington Instrumentariums zur posterioren segmentalen Fixation der Wirbelsäule vor. Bei dieser Methode wird die skoliotische Krümmung durch 2 individuell gebogene Metallstäbe, die mit Drahtschlingen an den Wirbelbögen nach Durchtrennung der Ligamenta flava befestigt werden, ausgeglichen und stabilisiert. Der Vorteil dieser Methode bestand in einer hohen postoperativen biomechanischen Stabilität, die praktisch keine Nachtherapie im Korsett erforderte, der Nachteil bestand in einem sehr hohen Risiko des Auftretens neurologischer Komplikationen.

1973 entwickelte Dwyer den operativen Zugang für die Korrektur von Skoliosen über einen Zugang von vorn (anteriorer oder ventraler Zugang).
Der Zugang von vorne wurde durch die operativen Ergebnisse von Hodgson und Stock vorbereitet, die viele Tuberkulosepatienten über einen transpleural-retroperitonealen Zugang operierten und dadurch ein standardisierter Zugang zur Lendenwirbelsäule und unteren Brustwirbelsäule geschaffen wurde.
Durch dieses ventrale Verfahren wurden die neurologischen Komplikationen verringert, die Fusionsstrecke wurde verkürzt und die Stabilität wurde durch die interkorporelle Fusion verbessert. Nachteile der Methode bestanden in der mehrmonatigen Nachbehandlung im Korsett und der fehlenden Möglichkeit der Derotation der Wirbel.

Dwyer

1975 stellte Klaus Zielke die Ventrale Derotationsspondylodese (VDS) vor, die er aus dem Dwyer Verfahren weiterentwickelte. Die wesentliche Verbesserung lag in einer neuen Kompressionstechnik und dem Einsatz eines Derotators. Mit diesem Verfahren konnten in der Frontalebene ausgezeichnete Ergebnisse erzielt werden, der Nachteil bestand in einer unzureichenden Beachtung des sagittalen Profils der Wirbelsäule mit Aufhebung der Lendenlordose.

K.Zielke K.Zielke, Derotator

1984 entwickelten Yves Cotrel und Jean Dubousset eine Operationsmethode, die von der Luque-Methode abgeleitet war. Ziel des Verfahrens war, durch eine dreidimensionale Korrektur der Wirbelsäule mittels Translation, Distraktion und Kompression eine bessere Derotation und ein verbessertes sagittales Profil der skoliotischen Wirbelsäule in Kombination mit einer Primärstabilität zu erzielen. Die Grundidee dieses Operationskonzept ist auch heute noch die Grundlage für die dorsale Instrumentation von Skoliosen. Die neurologischen Komplikationen, die bei der Methode nach Luque durch die Drahtcerclagen um die Wirbelbögen hervorgerufen wurden, konnten bei dieser neuen Methode dadurch vermieden werden, dass die beiden Metallstäbe mit Haken und Schrauben direkt knöchern in den Pedikeln der Wirbel fixiert wurden. Der Nachteil der Methode bestand in der ungenügenden Wiederherstellung des sagittalen Profils der Wirbelsäule und einer häufigen Dekompensation der nicht instrumentierten Wirbelsäulenanteile.

Die dorsalen und ventralen Instrumentationen gibt es in verschiedenen weiterentwickelten Methoden oder in kombinierter Anwendung der Verfahren.
Die Methoden nach Harrington, Luque und Cotrel-Dubousset sind Operationsverfahren, die von hinten über einen Zugang am Rücken (posteriorer Zugang) durchgeführt werden. Eine Weiterentwicklung des Instrumentariums von Cotrel-Dubousset für dorsale Operationsverfahren ist zum Beispiel das Spinefix-System.
Die Operationsverfahren nach Dwyer und Zielke erfolgen über einen ventralen (vorderen) Zugang. Die Instrumentation für den anterioren Zugang wurde ständig weiterentwickelt, basiert aber immer noch auf den Prinzipien des Zielke Instrumentariums. Neuere Entwicklungen sind die primärstabilen Instrumentarien von Halm-Zielke, Kaneda und CDH, sowie die ventrale Lordosierungs-und Derotationsspondylodese (VLDS). Das zunehmende Verständnis der Biomechanik der Wirbelsäule und die bahnbrechenden Arbeiten von Paul Harrington, der erstmals ein Implantatsystem zur Skoliosebehandlung entwickelt und eingesetzt hat, haben dazu geführt, dass sich das Gebiet der Wirbelsäulenchirurgie seit 1960 stetig weiterentwickelt hat. Durch eine kontinuierliche Verbesserung von Operationstechniken und Implantatsystemen, die rasante Weiterentwicklung von Computer gestützter apparativer Diagnostik mit hoher Aussagekraft und einer hoch entwickelten Intensivmedizin können heute anspruchsvolle und komplizierte Eingriffe an der Wirbelsäule durchgeführt werden, die dem betroffenen Patienten völlige Heilung seines Leidens oder eine Verbesserung seiner Lebensqualität durch Linderung des bestehenden Befunds ermöglicht.