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Kongenitale Skoliose - Formationsstörung

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Was ist eine „Kongenitale Skoliose”?

Unter einer kongenitalen (angeborenen) Skoliose versteht man eine Wirbelsäulendeformität mit Seitverbiegung und Verdrehung der Wirbelsäule, die durch angeborene Störungen in der embryonalen Wirbelentwicklung die Ausbildung von einem oder mehreren fehlgebildeten Wirbeln verursacht. Die unvollständig ausgebildeten Wirbel führen zu einem asymmetrischen Wachstum der Wirbelsäule. Fehlangelegte Wirbel können in jedem Wirbelsäulenabschnitt auftreten.
Durch so genannte Formationsstörungen, Segmentationsstörungen oder kombinierte Formen von Wirbelfehlanlagen wird das normale Wachstum der Wirbelsäule gestört und es kann dadurch in der weiteren Entwicklung der Wirbelsäule zur Ausbildung einer Skoliose kommen. Kongenitale Skoliosen treten selten auf, können aber wegen der Schwere der Wirbelsäulendeformität eine frühzeitige Operation erforderlich machen.

Wie entstehen die Wirbel in der Embryonalentwicklung?

Die 4.-8.Schwangerschaftswoche wird Embryonalperiode genannt. In dieser Entwicklungsperiode werden die Organe aus den drei Keimblättern angelegt (Organogenese).
Man unterscheidet drei Keimblätter:
  • Das äußere Keimblatt (Ektoderm), aus dem sich das Rückenmark, Nervensystem, Gehirn, Haut und Haare bilden.
  • Das innere Keimblatt (Entoderm), aus dem sich der Verdauungstrakt, Leber, Bauchspeicheldrüse, Harnblase und Harnröhre, Schilddrüse und Atemtrakt entwickeln.
  • Das mittlere oder 3. Keimblatt (Mesoderm) bildet die Wirbelsäule, die Rippen und die Muskulatur.

Durch Zellwanderung entlang der Mittellinie (paraaxial) des Mesoderms bilden sich die so genannten Somiten (Urwirbel), wobei sich zunächst 42-44 paarig angelegte Somitenpaare neben der Chorda dorsalis und dem Neuralrohr ausbilden. Die einzelnen Somiten bilden Segmentierungsfurchen aus, die bereits am Embryo sichtbar sind.
Die Somiten differenzieren sich weiter, wobei aus der Somitenwand drei Entwicklungsanlagen entstehen: Das Dermatom bildet die Haut und das Unterhautgewebe, aus dem Myotom entsteht die quergestreifte Muskulatur von Armen, Beinen und Rumpf und aus dem Sklerotom entwickeln sich die Wirbelsäule und die Rippen.
Die primäre Anlage der Urwirbel (Ursegmente) entspricht noch nicht der endgültigen Anlage der Wirbel. In der weiteren Phase des Embryonalwachstums werden 10 Somiten nicht weiterentwickelt, es kommt zur Ausbildung der 32-33 endgültigen Wirbel.
Zwischen der 7. und 10. Schwangerschaftswoche entstehen die Wirbel durch Teilung der Sklerotome in der Mitte in einen vorderen und hinteren Abschnitt, wobei die Wirbel durch Vereinigung von zwei benachbarten Halbsomiten (Ursegmenten) entstehen. Die Teilungsstelle entspricht dem späteren Zwischenwirbelspalt. Die Bandscheiben entstehen aus der vorderen Somitenhälfte, die zellärmer ist.
Diese Neugliederung der Körperachse wird als Resegmentierung bezeichnet. Treten in der Verschmelzung der Halbsomiten Störungen auf, kann es zur Ausbildung von fehlangelegten Wirbelkörpern kommen, die sich dann als Formationsstörung oder Segmentationsstörung der Wirbelkörperbildung zeigen.

Drei angelegte Somitenpaare bei einem menschlicher Embryo cirka in der 3.-4.Schwangerschaftswoche (von hinten bei geöffnetem Dottersack gesehen).

Welche Formen der angeborenen Wirbelfehlbildung gibt es?

Man unterscheidet Formationsstörungen, Segmentationsstörungen und kombinierte Formen der Wirbelfehlanlage.

Formationsstörungen

Eine Formationsstörung liegt vor, wenn ein Wirbelkörper unvollständig angelegt ist. Man unterscheidet:

• Vordere Formationsfehler (Keilwirbel)

Keilwirbel (seitlich gesehen) normal ausgebildete mittlere Brustwirbelsäule, seitlich gesehen.

Ein Keilwirbel liegt vor,wenn ein Wirbelkörper dysplastisch (fehlangelegt)ist, die Pedikel (Bogenwurzeln) aber noch erhalten sind.

• Laterale Formationsfehler (Halbwirbel)

Wirbelsäulenabschnitt mit zwei Halbwirbeln, kompensiert

Bei lateralen Formationsstörungen entstehen so genannte Halbwirbel, wenn eine Wirbelseite dysplastisch angelegt ist. Man sieht verschiedene Formen von Halbwirbeln. Es können auf einer Wirbelseite die Bogenwurzeln und Wirbelgelenke überhaupt nicht angelegt sein, es kann aber auch nur zu einer leichten seitlichen Abschrägung der Wirbelkontur kommen. Halbwirbel können als Einzelbefund oder gehäuft auftreten und, je nach Erscheinungsbild, zu einer Deformität der Wirbelsäule im frontalen und sagittalen Wirbelsäulenprofil führen. Sind zwei Halbwirbel oberhalb und unterhalb eines intakt angelegten Wirbels in umgekehrter Keilrichtung vorhanden, können die beiden Halbwirbel die Tendenz der Wirbelsäule, sich zu verbiegen, eventuell kompensieren. (siehe Bild)

• Mittlere Formationsfehler

Schmetterlingswirbel

Liegt ein mittlerer Formationsfehler, also ein zentraler Wirbelkörperdefekt vor, kommt es zur Ausbildung eines Schmetterlingswirbels. Die vorhandenen Wirbelanteile können Wachstumsfugen aufweisen, sie können aber auch mit Wirbelkörpern des benachbarten Wirbelsegments verwachsen sein. Schmetterlingswirbel, die in ihrer Höhe normal ausgebildet sind, müssen nicht zu einer Abweichung der Wirbelsäulenachse führen.

Welchen Verlauf können kongenitale Skoliosen haben?

Der Spontanverlauf kongenitaler Skoliosen ist variabel und hängt vom Ausmaß der Fehlbildung ab. Einige Fehlbildungen wie der inkarzerierte oder balancierte Halbwirbel lassen eine günstige Prognose erwarten, im Gegensatz zu rasch progredienten (fortschreitendenden) Formen wie Halbwirbel in Verbindung mit einer kontralateralen Barbildung (Stabbildung auf der Gegenseite). Auch die Ausbildung von 2 unilateral gelegenen Halbwirbeln führt in der Regel zu einer starken Verkrümmung und erfordert eine frühzeitige Intervention. Ein vollständiger unilateraler Formationsdefekt lässt einen Halbwirbel entstehen, eine der häufigsten Ursachen der kongenitalen Skoliose. Ein solcher Halbwirbel besitzt mit Ausnahme weniger inkarzerierter Formen ein nahezu normales Wachstumspotential und bildet so eine keilförmige Deformität, die sich während des Wachstums verstärkt. Mit zunehmendem Alter nehmen sowohl Ausmaß als auch Rigidität (Starrheit) der Primärkrümmung zu. In den ursprünglich nicht betroffenen benachbarten Wirbelsäulenabschnitten bilden sich sekundäre Gegenkrümmungen aus, die mit zunehmendem Alter zunehmend rigide werden und manchmal ein größeres Problem als der eigentliche Keilwirbel darstellen.

Einfache Halbwirbel weisen nach McMaster und Ohtsuka eine Progredienz (Zunahme) der Wirbelsäulenverkrümmung von 1-3, 5° jährlich auf, am ungünstigsten ist der Verlauf bei Lage der Keilwirbel im Bereich der unteren Brustwirbelsäule und am thorakolumbalen Übergang. Halbwirbel mit gleichzeitig bestehender kontralateraler Barbildung zeigen eine Progredienz von 5-10° und mehr pro Jahr auf, was die Dramatik dieser Fehlbildung doch sehr deutlich beleuchtet. Bei entsprechend ungünstiger Lage können die kongenitalen Skoliosen auch mit einer zunehmenden Kyphosierung verbunden sein, was eine ganz ungünstige Prognose hat. Insbesondere kann es bei dieser Fehlform auch zur Ausbildung einer Myelopathie (Rückenmarkschädigung) mit zunehmenden neurologischen Störungen im Alter kommen.

Wie werden kongenitale Skoliosen behandelt?

Konservative Therapieversuche sind nicht Erfolg versprechend, das asymmetrische Wachstum kann durch keine Korsettbehandlung beeinflusst werden, allenfalls ist eine Beeinflussung der sekundär sich ausbildenden Gegenkrümmung möglich.
In Anbetracht des ungünstigen Spontanverlaufs besteht bei nachgewiesener oder zu erwartender Progredienz die Indikation zur operativen Therapie.

Bisher beschriebene operative Verfahren sind:

  • In situ Fusion
  • Konvexseitige Hemiepiphysiodesen
  • Konvexseitige Hemiarthrodesen
  • Wuchslenkende Operationsverfahren
  • Instrumentation mit Zielke-Askani Growing-rod
  • Vepter Instrumentation

Neben den genannten Operationsverfahren kommen Halbwirbelresektionen mit Fusionen (Entfernung der Halbwirbel mit anschließender operativer Versteifung) des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts in Frage.

Die Resektion eines Halbwirbels wurde erstmals von ROYL im Jahre 1928 beschrieben. Die Methode konnte sich jedoch lange nicht durchsetzen. Erst LEATHERMAN berichtet 1979 über gute Ergebnisse bei einer größeren Anzahl von Halbwirbelresektionen über einen zweizeitigen vorderen und hinteren Eingriff. Die Korrektur nach Resektion des Halbwirbels wurde durch Gips- oder Kunststoffkorsette über etwa 6 Monate erreicht. Alternativ wurde die Lücke nach Resektion des Halbwirbels über eine Kompressionsinstrumentation (Harrington) mit Haken geschlossen.

Der Nachteil der kombinierten Keilwirbelresektion, wie sie von LEATHERMAN propagiert wurde, sind folgende:

  • Notwendigkeit eines zweiten ventralen Eingriffes in einer zweiten Narkose
  • Korrektur durch Korsett mit langfristiger Immobilisation - besonders im thorakalen Bereich schwer durchführbar
  • Kompression durch Hakeninstrumentation erfordert stabile dorsale knöcherne Strukturen und kann deswegen bei Kleinkindern nur bedingt durchgeführt werden.

Um die Nachteile dieses Verfahrens zu umgehen, wurde von uns eine Technik der Keilwirbelresektion entwickelt, die alleine vom dorsalen Zugang her durchgeführt wird. Sie wurde erstmals im Jahre 1991 angewandt und ist durch zwei grundsätzliche Merkmale charakterisiert:

  • Komplette Resektion des Halbwirbels über einen rein dorsalen Zugang
  • Korrektur und Stabilisation der Fehlbildung erfolgt durch eine kurzstreckige hemirigide transpedikuläre Instrumentation

Operationstechnik:
Über einen dorsalen Zugang (Zugang von hinten) werden der Halbwirbel und die benachbarten Wirbel einschließlich der Wirbelbogen der kleinen Wirbelgelenke dargestellt. Im Bereich der Brustwirbelsäule müssen auch die Rippen-Wirbelgelenke präpariert werden. Der Eintrittspunkt der Pedikelschrauben (Pedikel=Bogenwurzel) an den benachbarten Wirbeln wird zunächst mit Kanülen markiert, die Lage und Richtung der Kanüle wird dann im Bildwandler kontrolliert (Abb. 1).

Abb. 1

Nach Vorbohren und Einschneiden eines Gewindes werden die Pedikelschrauben eingebracht. Die dorsalen Anteile des Halbwirbels werden reseziert (entfernt): Lamina, Gelenkfacetten, Querfortsatz, dorsale Pedikelanteile. Der Duralsack und die Nervenwurzeln ober- und unterhalb des Pedikels des Halbwirbels werden dargestellt (Abb. 2).
Abb. 2

Nach Resektion der Bogenwurzel erfolgt die Darstellung des seitlichen Anteils des Halbwirbels: im Bereich der Lendenwirbelsäule muss dazu der Querfortsatz reseziert werden, im Bereich der Brustwirbelsäule muss das überzählige Rippenköpfchen reseziert werden, um die Seitenwand des Wirbelkörpers gut darzustellen. Die Präparation der Seitenwand und der Vorderwand des Wirbelkörpers erfolgt stumpf, sie kann subperiostal oder extraperiostal (unterhalb oder außerhalb der Knochenhaut) erfolgen. Es ist wichtig, vorsichtig dann einen stumpfen Spatel vorzuschieben, um die ventral vor dem Halbwirbel liegenden Gefäße zu schützen (Abb. 3).
Abb. 3

Unter Schutz von Duralsack (Rückenmarkhülle) und Nervenwurzeln werden dann die den Halbwirbel begrenzenden Bandscheiben inzidiert und ausgeräumt, der Rest des Pedikels zusammen mit dem Halbwirbel wird dann mobilisiert und entfernt (Abb. 4).
Abb. 4

Danach wird die auf der Konkavseite liegende Bandscheibe entfernt, die die beiden Wirbelkörper verbindet, die sich nach cranial und caudal dem Halbwirbel anschließen. Die Deckplatten der benachbarten Wirbel werden angefrischt (Abb. 5).
Abb. 5

Danach erfolgt das Einsetzen der Längsträger auf der Konvexseite und Ausübung von Kompression über die Konvexität, wodurch sich die Lücke, die nach Resektion des Halbwirbels entstanden ist, vollständig schließt, die angefrischten Endplatten der benachbarten Wirbelkörper nähern sich aneinander. Das Knochenmaterial aus dem Halbwirbel wird zur raschen knöchernen Fusion angelagert. Auch auf der Konkavität erfolgt eine entsprechende dynamische Stabilisierung (Abb. 6 und 7).
Abb. 6 Abb. 7

Bei gleichzeitig bestehender ausgeprägter Kyphosierung kann ein Titankorb als vordere Abstützung in das Bandscheibenfach eingesetzt werden. Dieser wirkt dann als Hypomochleon (Dreh- oder Unterstützungspunkt) für die dorsale Kompression, um eine segmentale Lordose zu erzielen. Gleichzeitig wird dadurch eine zu starke Verkürzung des Rückenmarkes verhindert.
Bei einfachen Halbwirbeln ohne weitere Fehlbildungen genügt es im Allgemeinen, nur die beiden direkt an den Halbwirbel angrenzenden Wirbel zu fusionieren. Bei stärkeren strukturellen Veränderungen der Nachbarwirbel oder höhergradiger Kyphose können weitere Segmente temporär in die Instrumentation einbezogen werden. Bei kontralateraler Barbildung und Rippensynostosen wird der Bar durchtrennt und die konkavseitigen Rippenköpfchen reseziert. Die Instrumentation muss über die gesamte Länge des Bars durchgeführt werden.

Nachbehandlung:
In der Regel ist das Aufstehen nach dem ersten postoperativen Tag möglich. Je nach Stabilität der Instrumentation und Länge der Fusion wird ein Korsett (2-Schalen-Orthese oder ein Stagnara-Korsett) für ca. 12 Wochen angepasst.

Beurteilung der Ergebnisse

Korrektur der Hauptkrümmung:
Der segmentale Winkel der Hauptkrümmung betrug präoperativ durchschnittlich 37,6° (16-66°). Diese korrigierte sich postoperativ auf 8,7° (-1° bis 29°) und betrug 6,2° (-5° bis 30°) bei der letzten Nachuntersuchung. Dies bedeutet eine durchschnittliche Korrektur von 31,4° oder 84%.
Der Gesamtwinkel der Hauptkrümmung betrug präoperativ durchschnittlich 45,9° (16° bis 109°), er korrigierte sich postoperativ auf 11,9° (-1° bis 45°) und 9,9° (-5° bis 55°) bei der letzten Nachuntersuchung. Dies bedeutet eine durchschnittliche Korrektur von 36° oder 78%.

Korrektur der Sekundärkrümmung:
Auch die Korrektur der Sekundärkrümmung ist sehr zufriedenstellend. Für die nach kranial sich anschließende Gegenkrümmung konnte in der Regel eine Spontankorrektur von 80° und für die nach kaudal sich anschließende Sekundärkrümmung eine Spontankorrektur von 75° erreicht werden.

Korrektur in der Sagittalebene:
Auch das sagittale Profil konnte in der Regel erhalten oder normalisiert werden.

Komplikationen:
In keinem Fall kam es zu neurologischen Komplikationen. Möglich ist ein Implantatbruch, da es sich um eine dynamische Instrumentation in einem gesamten dynamischen System handelt. Bei wenigen Patienten kam es im Laufe des weiteren Wachstums zu einer erneuten Skoliose, die einer erneuten operativen Korrektur bedurfte.

Zusammenfassung:
Es handelte sich hier insgesamt um doch sehr erfreuliche Ergebnisse, wobei auch die Anzahl der Nachoperationen als voll akzeptabel anzusehen ist. Denn es muss bedacht werden, dass es sich bei diesen Patienten um sehr junge Patienten handelt. Das Durchschnittsalter in unserem Patientengut lag bei 3,5 Jahren (15 Monate bis 6 Jahre).
Somit ist klar definiert, dass die Wirbelsäule zum Zeitpunkt der Operation ein großes Wachstumspotential besitzt. Die Auswirkungen auf die Fusion innerhalb des wachsenden Skeletts können nie sicher vorausgesagt werden. Insgesamt waren wir jedoch erstaunt, wie relativ gering der Einfluss des Wachstums auf das fusionierte Segment gewesen ist.