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Was sind Neuromuskuläre Erkrankungen?
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Man beschreibt damit Krankheitsbilder, die primär durch neurologische oder muskuläre Erkrankungen entstehen und durch eine Vielzahl von Symptomen in unterschiedlicher Ausprägung bestimmt sind (zum Beispiel Störungen des Haltungs- und Bewegungsapparats, geistiger Behinderung oder Schädigung der Sinneswahrnehmung).
Viele dieser Erkrankungen beginnen bereits im Kindesalter und können, neben der Vielzahl der vorherrschenden Einzelsymptome, durch die neuromuskuläre Störung des Haltungsapparats im Verlauf der Erkrankung auch zur Ausbildung einer Skoliose führen.
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Was sind „Spinale Muskelatrophien” (SMA)?
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Unter dem Begriff „Spinale Muskelatrophie” werden Krankheiten zusammengefasst, die durch eine erbliche und fortschreitende Schädigung des motorischen Systems gekennzeichnet sind. Bei diesen Erkrankungen sind motorische Zellen (α-Motoneurone) hauptsächlich des Rückenmarks (spinal), aber auch motorische Nervenzellen in der Hirnrinde und im Hirnstamm geschädigt und werden zerstört, wodurch die Weiterleitung von Nervenimpulsen vom Gehirn zu den ausführenden Muskeln gestört ist.
Die Störung der Weiterleitung von Nervenimpulsen durch Untergang der Motoneurone führt zu folgenden Symptomen im motorischen System:
- Muskelatrophie („Muskelschwund”)
- Paresen (Lähmungen)
- Hypotonie der Muskulatur (Verringerung der Muskelspannung)
- Schluck-, Kau- und Sprechstörungen bei Mitbeteiligung der Motoneurone des Hirnstamms
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Wodurch werden Spinale Muskelatrophien hervorgerufen?
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Bei der Spinalen Muskelatrophie handelt es sich um eine Erberkrankung mit autosomal rezessivem Erbgang. Dies bedeutet, ein Kind kann nur dann an einer Spinalen Muskelatrophie erkranken, wenn beide Elternteile Träger des genetischen Merkmals sind und beide das Krankheitsmerkmal auf das Kind übertragen. Überträgt nur ein Elternteil das genetische Merkmal, so kommt beim Kind die Erkrankung nicht zum Ausbruch, das Kind kann die Erkrankung aber als Träger des Merkmals weitervererben.
Betroffenen mit einer Spinalen Muskelatrophie oder Trägern dieses genetischen Merkmals fehlt das so genannte „survival motoneuron 1” (SMN 1). Dieses Gen produziert ein spezielles Protein (Eiweißstoff), das für die Funktionsfähigkeit der Motoneurone verantwortlich ist. Durch das Fehlen dieses Proteins kommt es zur Schädigung der Motoneurone und damit zur Störung der Weiterleitung von Impulsen im motorischen System.
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Was ist das „Motorische System”?
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Das motorische System steuert die willkürlichen Bewegungen und versorgt die Muskulatur von Rumpf, Armen und Beinen mit Nervenimpulsen, die dann durch Aktivierung der Muskulatur in ein adäquates Bewegungsmuster umgesetzt werden.
Vereinfacht dargestellt besteht das motorische System aus dem 1. Motoneuron in der Hirnrinde und dem so genannten 2. Motoneuron (α-Motoneuron) im Vorderhorn des Rückenmarks.
Die Entstehung eines erforderlichen Bewegungsmusters, zum Beispiel das Anheben eines Beines, um eine Treppenstufe zu ersteigen, spielt sich im motorischen System, vereinfacht dargestellt, wie folgt ab:
Das 1. Motoneuron in der Hirnrinde erstellt den „Bauplan” für den angeforderten Bewegungsablauf und schickt die entsprechenden Impulse über das Rückenmark zum 2. Motoneuron im Vorderhorn des Rückenmarks. Das 2. Motoneuron ist durch Nerven mit den Muskeln verbunden und gibt die Impulse an die Muskulatur weiter, die dann den angeforderten Bewegungsablauf ausführen kann. Die im Hirnstamm befindlichen Motoneurone gehören ebenfalls zum motorischen System und sind für die Schluck-, Sprech- und Kaumuskulatur zuständig.
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Vereinfachte Darstellung des motorischen Systems |
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Wie werden die Spinalen Muskelatrophien eingeteilt?
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Die spinalen Muskelatrophien werden in 4 Krankheitsgruppen eingeteilt (SMA Typ I-IV), die bezüglich der Symptome, des Verlaufs und der Prognose variieren. Alle Muskeln des Körpers können betroffen sein, wobei die Muskelgruppen, die dem Rumpf nahe sind wie Schulter-, Rücken- und Beckenmuskulatur meist am stärksten betroffen sind. Die Muskelatrophie der Beine ist in der Regel stärker ausgeprägt als die der Arme.
SMA Typ I, auch Werdnig-Hoffmann Krankheit oder akut infantile SMA genannt, zeigt folgende Symptome:
- Beginn der Erkrankung bereits im Mutterleib
- Autosomal rezessiver Erbgang
- Diagnosestellung vor dem 6. Lebensmonat
- Nur geringe Kindsbewegungen in der Gebärmutter
- Stark verminderter Muskeltonus („floppy infant”)
- Froschschenkelhaltung der Beine
- Abschwächung oder Aufhebung der Muskeleigenreflexe
- Auffällige Faszikulationen („Zittern”) der Zunge
- Hauptsächlich Körperstamm betonte Muskelatrophie
- Meist Beginn im Bereich des Beckengürtels und der Oberschenkel
- Sitzen und Gehen sind nicht erlernbar
- Saug- und Schluckstörungen mit Gefahr der Aspiration ("Verschlucken") von Nahrung, Flüssigkeit oder Speichel in die Lunge, wodurch eine Lungenentzündung ausgelöst werden kann.
- Atemstörung bis hin zur Atemlähmung durch Schwäche der Interkostalmuskulatur, den so genannten Zwischenrippenmuskeln, die bei der Atmung für die Bewegung des Brustkorbs verantwortlich sind.
- Ausbildung eines Glockenthorax (Glockenartige Verformung des Brustkorbs)
- Deformitäten im Bereich des knöchernen Skeletts mit Ausbildung einer Skoliose, Hyperlordose und Fußfehlstellungen
- Decubitus ("Wundliegen")
- Häufige Infekte der Lunge
- Geringe Lebenserwartung, cirka 90% der Kinder sterben bis zum 10. Lebensjahr durch die bestehende Ateminsuffizienz
SMA Typ II, die chronisch infantile oder intermediäre SMA zeigt folgende Symptome:
- Autosomal rezessiver Erbgang
- Krankheitsbeginn meist im 1. Lebensjahr
- Freies Sitzen ist erlernbar
- Freies Gehen nur mit Hilfe oder Hilfsmitteln möglich
- Zungenfaszikulationen und leichtes Zittern der Finger
- Ausbildung einer skoliotischen Wirbelsäulendeformität
- Deformität des Brustkorbs
- Selten Schluckstörungen
- Störung der Nahrungsaufnahme
- Atrophie der Interkostalmuskulatur mit Ateminsuffizienz
- Pulmonale Infekte
- Cirka 30% der Kinder erleben das 10. Lebensjahr, wenige werden älter als 20 Jahre
SMA Typ III, auch juvenile SMA oder Kugelberg-Welander Erkrankung genannt, ist gekennzeichnet durch:
- Meist autosomal rezessiver Erbgang, gelegentliches Auftreten der Erkrankung als Neumutation
- Variabler Krankheitsbeginn (zwischen dem 1. Lebensjahr und fortgeschrittenem Jugendalter)
- Meist Beginn im Bereich der Muskulatur des Becken- und Schultergürtels
- Keine wesentliche Verkürzung der Lebenserwartung
- Gehen ohne Hilfe ist möglich, wobei sich die Fähigkeit zu stehen oder zu laufen im Verlauf der Erkrankung wieder verschlechtern kann.
- Fußdeformitäten
- Kontrakturen der Gelenke
SMA Typ IV, adulte SMA mit folgenden Symptomen:
- Meist schleichender Beginn nach dem 30. Lebensjahr
- Unterschiedliche Ausprägung der muskulären Schwächen
- Atem- und Schluckmuskulatur nur selten betroffen
- Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt
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Wie wird die Diagnose einer spinalen Muskelatrophie gestellt?
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- Nachweis des Fehlens des SMN 1 Gens durch eine molekulargenetische Blutuntersuchung
- Klinische und neurologische Untersuchung zur Befunderhebung des vorliegenden Muskel- und Reflexstatus, sowie zur Abgrenzung von anderen organischen Erkrankungen
- Durchführung einer Muskelbiopsie, bei der ein Stück Gewebe aus einem Muskel in örtlicher Betäubung entfernt wird. Diese Gewebeprobe wird unter dem Mikroskop untersucht und ermöglicht eine Abgrenzung zu Muskelerkrankungen, die andere Ursachen haben.
- Mit der Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit und einer Elektromyographie (EMG) können elektrische Impulse eines Nerven, die Leitgeschwindigkeit des Impulses und die Ansprechbarkeit des Muskels auf den Impuls gemessen werden.
- Die Bestimmung der Kreatinkinase (CK), einem Muskelenzym, ist für die Diagnosesicherung wenig spezifisch, da sie bei den verschiedenen Formen der spinalen Muskelatrophie sowohl im Normalbereich als auch leicht erhöht sein kann.
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Wie werden die spinalen Muskelatrophien behandelt?
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Bislang gibt es keine ursächliche Behandlung, durch die spinale Muskelatrophien geheilt werden können. Deshalb müssen die Behandlungsmaßnahmen intensiv genutzt werden, die eine Verbesserung der Muskelkraft oder eine Verlangsamung der Zunahme der Muskelschwäche bewirken. Abhängig vom individuellen Befund der jeweiligen Erkrankung können folgende Behandlungen im Rahmen eines individuell zu erstellenden Therapieplans in Zusammenarbeit zwischen Eltern, Erkrankten, behandelnden Ärzten und Therapeuten sinnvoll sein:
- Krankengymnastik zur Verbesserung und Erhaltung der Muskelfunktion und zur Behandlung und Vorbeugung von Muskelkontrakturen (Verkürzungen)
- Physikalische Therapie (Massagen, Kälte / Wärmebehandlung,
- Elektrotherapie (TENS, Interferenzstrom)
- Ultraschallbehandlung
- Ergotherapie
- Logopädie besonders bei Schluckstörungen
- Psychologische Begleitung
- Schmerztherapie
- Bei Schluckstörungen mit unzureichender Nahrungsaufnahme kann es erforderlich werden, dass die Nahrung über eine Magensonde zugeführt wird. In der Regel wird dann eine so genannte PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie) angelegt. Bei diesem Verfahren wird unter optischer Kontrolle der Magenspiegelung ein dünner Schlauch durch die Bauchdecke in den Magen gelegt, worüber die Nahrungsaufnahme durchgeführt werden kann.
- Behandlung von Atemstörungen Durch die Atrophie der Muskulatur der Brustwand, der Atemhilfsmuskulatur, des Zwerchfells und der Muskelschwäche der Bauchdecke ist die Atemfunktion in unterschiedlich starker Ausprägung eingeschränkt. Dies kann zu einer Sauerstoffunterversorgung führen, die eingeschränkte Beweglichkeit des Brustkorbs führt zusätzlich zu einem verminderten Abtransport von Sekret und Schleim aus der Lunge, wodurch es zu wiederholten Lungeninfekten kommen kann. Aus diesen Gründen ist eine Überwachung der Lungenfunktionswerte, eine Verbesserung der Schleimdrainage aus der Lunge durch eine gezielte Atem- und Lagerungstherapie und bei bestehenden Infekten der Lunge eine antibiotische Behandlung erforderlich. Bei schweren Atemstörungen, hauptsächlich bei SMA Typ I Kindern, kann eine maschinelle Unterstützung der Atemfunktion erforderlich werden.
- Orthopädische Hilfsmittel wie spezielle Sitz-, Steh- und Gehhilfen und ein der Behinderung angepasstes Umfeld können die individuelle Situation und Eigenständigkeit verbessern oder die Pflege erleichtern.
- Operative Versorgung einer Skoliose Durch die bestehenden Muskelatrophien der Rumpfmuskulatur kommt es zur massiven Veränderung der Körperstatik, wodurch es gerade bei Patienten mit einer spinalen Muskelatrophie, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, häufig zur Ausbildung einer Skoliose kommt. Da die neuromuskulär bedingten Skoliosen durch die bestehende Grunderkrankung mit konservativen Maßnahmen nur mit geringem Erfolg zu behandeln sind, kann eine frühzeitige Operation, bevor es zu einer Verschlechterung der Atmungs- und Kreislauffunktion kommt, sinnvoll sein.
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Welche weiteren neuromuskulären Erkrankungen gibt es?
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Die bekanntesten neuromuskulären Erkrankungen sind:
• Infantile Cerebralparese
• Meningomyelocele
• Duchenne Muskeldystrophie
Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine fortschreitende Muskelerkrankung, beginnend im 1.-2.Lebensjahr mit einer Schwäche der Beckenmuskulatur, die sich über die Schultergürtelmuskulatur zu einer generalisierten Muskelschwäche ausdehnt. Da es sich um einen X-chromosomalen Erbgang handelt, sind nur Knaben betroffen. Die Lebenserwartung liegt bei etwa 20 Jahren. Durch Befall der Herzmuskulatur oder der Atemmuskulatur sterben die Betroffenen im Rahmen einer Herzmuskelschwäche (Herzinsuffizienz) oder durch eine Ateminsuffizienz mit wiederholten schweren Lungenentzündungen.
• Syringomyelie, Syringobulbie
Die Syringomyelie ist eine Erkrankung des Rückenmarks, die hauptsächlich die Hals- und Brustwirbelsäule, die Syringobulbie das verlängerte Rückenmark (medulla oblongata) befällt. Im Rückenmark bilden sich Höhlen (Syringen) aus, die keine Nervenzellen enthalten, was zu unterschiedlich schweren Ausfallserscheinungen (Störung der Tiefensensibilität, des Lageempfindens, Gangunsicherheit, Muskelschwund mit gestörter Körperstatik und Ausbildung einer Skoliose) führt. Es gibt angeborene (Arnold-Chiari Malformation, Spina bifida und andere Primärerkrankungen) und erworbene Ursachen (Tumore oder Infektionen des Rückenmarks), die zur Ausbildung dieser Höhlen führen können.
• Poliomyelitis
Die Kinderlähmung wird durch RNA Viren aus der Gruppe der Picornaviren verursacht. Nach Befall des Zentralnervensystems führt die Poliomyelitis durch eine Schädigung des zweiten motorischen Neurons im Rückenmark zu Lähmungen und Hirnhautentzündung. Eine antivirale Therapie gibt es bislang noch nicht, der beste Schutz wird durch eine vorbeugende Impfung gewährleistet.
• Spinocerebelläre Ataxie (Friedreich Ataxie)
Die Friedreich´sche Ataxie ist eine erbliche Störung der vom Rückenmark gesteuerten Motorik, die sich durch eine Störung der Bewegungskoordination mit unsicherem Stand und Gang (Stand- und Gangataxie) auszeichnet. Die Erkrankung ist fortschreitend, als mögliche Ursache vermutet man eine Eisenübersättigung der Mitochondrien, was zur Bildung so genannter freier Radikale führt, die dann die Nervenzellen schädigen. Neben weiteren Komplikationen wie Ausbildung einer Herzmuskelvergrößerung (Kardiomyopathie) kann diese Ataxie auch eine Skoliosebildung verursachen.
• Arthrogryposis multiplex congenita (AMC)
Es handelt sich um eine angeborene Fehlentwicklung des Bindegewebes und des Nervensystems, durch die es zu einer gestörten Entwicklung der Muskulatur (Muskelschwäche oder fehlende Muskelgruppen) und damit verbunden zu Fehlentwicklungen der Gelenke mit Einsteifung kommen kann. Die Erkrankung kann mit Fehlstellungen der Wirbelsäule und schweren Fehlbildungen des Zentralnervensystems vergesellschaftet sein.
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